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Riese BMW hat’s vorgehüpft, die Klein-Unternehmer ziehen nach: Social Media Marketing als neue Wunderwaffe. Braucht jetzt jede Firma eine Facebook-Seite? [Erschienen im WIENER Nr.342/Jänner 2010]

„Tarte ist gut, Crème brûlée ist gut, Nougat ist gut. Wie gut muss dann erst eine Nougat-Crème-brûlée-Tarte sein? In zwei Stunden werden wir es wissen.“ twittert Michael Vesely. Und um ganz sicher zu gehen, dass nun wirklich jeder seiner 600 Follower auf die Tastatur sabbert, stellt er noch rasch einen Schnappschuss auf Facebook: „Das Warten der Schokopuddinge auf die Mittagsgäste“. Mehr kann man wirklich nicht tun.

Reisinger’s ist ein winziges Lokal im Textilviertel. Mit zwanzig Gästen ist es bereits überfüllt. Dass sich diese zwanzig hier regelmäßig einfinden, dafür sorgt Wirt Vesely mit Charme, Humor und Social Media Marketing. „Wer, wenn nicht Lokale sollen twittern?“, sagt er, „Wir twittern unser Mittagsmenü und haben so zumindest einmal täglich etwas Sinnvolles mitzuteilen. Das ist mehr als viele andere.“

Veselys Geheimnis? Authentizität, denn glatt gebügelte Corporate-Speak-Ergüsse interessieren niemanden: Social Media Marketing ist Dialog, nicht Keilerei. Das klar definierte Ziel: Kundenbindung vor Kundengewinnung. Wer das beherzigt, knackt nicht gleich den Jackpot, hat aber zumindest mal einen Fuß in der Tür.

„Durch Twitter, Facebook und Co. haben wir einen konstanten Dialog mit unseren Gästen. Wir forcieren das auch, etwa durch Abstimmungen bezüglich Speiseplan oder Veröffentlichen von Rezepten auf Gästewunsch.“

Gerade für Klein- und Mittelunternehmen, für Nahversorger wie Reisinger’s ist Social Media Marketing attraktiv: es kostet nichts, ist aber – richtig genutzt – effektiv.

Ja klar, oft grenzt es an Selbstausbeutung, was Zeit und persönliches Engagement anbelangt, aber die Ergebnisse können sich sehen lassen. In Schulungen zum Thema wird an dieser Stelle dann immer gerne auf das Bilderbuch-Beispiel Gary Vaynerchuk verwiesen. Tun wir hiermit auch: Herr Vaynerchuk leitet einen Online Weinhandel (winelibrary.com). Keine sonderlich originelle Idee, denn das Netz beheimatet Millionen zunächst hoffnungsvoller, dann hoffnungsloser Weinhändler. Aber die „Wine Library“ ist anders: Sie hat innerhalb der letzten fünf, sechs Jahre den Umsatz verzehnfacht. Wie? Durch Wine Library TV, einem weinseligen Video-Podcast, der Dank seiner täglichen Updates zum Community-Magneten avancierte. Kostenpunkt? Null. Bilanz: 50 Millionen Dollar.

„Das Potential ist enorm“, weiß Social Media Profi Dieter Rappold (siehe untenstehendes Interview bzw. Videointerview hier), „Aber der deutschsprachige Raum ist da sehr konservativ und zurückhaltend.“ Das Problem liegt jedoch weniger darin, dass Facebook und Konsorten hier unbekannt wären, als in einer Scheu, sich in diesem neuartigen Ökosystem zu bewegen. Das Tool muss letztlich auch zur Unternehmenskultur und zum Selbstverständnis eines Betriebs passen. Wer versucht, im Web 2.0 auf die gleiche Art und Weise zu kommunizieren, wie in der „alten Welt“, in der Welt des klassischen Marketings wird scheitern. Denn das ist nicht mehr, was Konsumenten wollen. Dialog auf Augenhöhe heißt die Zauberformel – und daran beißen sich oft gerade die Werbe-Yuppies und PR-Tussen die gebleachten Zähne aus. Rappold: „Wenn ich aber möchte, dass sich jemand für meine Arbeit interessiert, muss ich mich grundlegend verändern.“

Eine platte, massenmediale Botschaft, mittels Hilti in Zielgruppenhirne gebohrt, wird von Webcommunities im besten Fall ignoriert. Gesucht wird Content statt Slogans. Will ich als Firma im Social Web mitspielen, muss ich bereit und fähig sein, diesen relevanten Content anzubieten: Something to talk about. Das ist der Anfang; der Rest ist Beziehungspflege.

Beziehungen sind es, die Content Gehör verschaffen.

Denn tatsächlich steht Content (und durchaus auch relevanter) im Netz unbegrenzt zur Verfügung. War früher der mediale Platz zur Vermittlung von Botschaften eng und entsprechend umkämpft, so lässt der Onlinebereich aufatmen: Platzprobleme unbekannt. Begrenzt ist hingegen die Aufmerksamkeit der User – rar und ausschließlich durch Beziehungspflege zu erreichen.

„Sollen wir dir ein Stück Himbeer-Tarte samt Prosecco für heute Abend reservieren, Kerstin?“ fragt Vesely via Facebook einen Stammgast und liefert gleich den Augenzeugenbericht aus Reisingers Küche: „Noch wabbelt die heiße Füllung ein bisserl, aber in einer knappen Stunde ist sie schnittfest.“ Beziehungspflege in Reinkultur. Ein Händchen dafür braucht es halt. Es liegt nicht jedem.

Gegenbeispiel gefällig?

Jack Wolfskin, Hersteller von Outdoor- und Trekking-Bekleidung, wurde jüngst zum Buhmann der Szene. Ein Elefant im Glasfaserleitungsladen. Was war geschehen? Einige User hatten ihre selbstgestrickten Mützen und Co. auf einem Amateur-Handarbeitsportal zum Verkauf angeboten. Dabei war das Strickmuster ein Tierpfotenabdruck, in dem Jack Wolfskins Rechtsanwälte meinten, das Firmenlogo wiederzuerkennen. Mehr war nicht nötig, um die geballte Maschinerie an Abmahnungen, Klagdrohungen und anderen Grauslichkeiten loszutreten. Sprich: So ziemlich das Gegenteil von Dialog auf Augenhöhe.

Das Ergebnis fiel jedoch etwas anders aus, als von der Anwaltsarmee erwartet: Schneller als man „tweet this“ sagen kann, organisierte sich ein breit angelegter Protest. Wer „Jack Wolfskin“ in Google eingab, erhielt auf den ersten Ergebnisseiten Dutzende sehr negative Meldungen über die Marke und den Umgang mit Kunden. Am Ende des Tages sah sich Jack Wolfskin gezwungen, zurückzurudern und sich mit den Betroffenen zu einigen.

Tja, Pech: Kunden, die sich organisieren können, haben Macht. Interaktionen, die nicht auf Hausverstand und Menschlichkeit basieren, können im Netz entsprechend viel Schaden für eine Marke anrichten. Aber getreu dem Sprichwort „one man’s trash is another man’s treasure“: wo abmahnen versagt, funktioniert mitspielen.

„Fight H1N1 – esst mehr Schweinefleisch!“, twittert Vesely. Und kann sich darauf verlassen, dass die Kunden dieser Aufforderung nachkommen werden. In seinem Lokal.

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